Ein Samstag im Frühling 22

Blütensterben auf Kehrblech.

Der Krieg ist zurück. Auf europäischem Boden. In der Ukraine werden täglich Massengräber entdeckt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Kanzler warnt vor einem Atomkrieg, einem Dritten Weltkrieg. Morgen könnte Frankreich eine rechtspopulistische Präsidentin krönen. In der Fußgängerzone demonstrieren Tierrechtler gegen Versuche an Tieren. Die Parteien in NRW führen Wahlkampf mit Fähnchen auf dem Marktplatz. Bilder werden forensisch untersucht.

Ein Chor der Freikirche singt unter Gitarrenbegleitung, „Der König kommt“ in der Fußgängerzone. Die Tafel backt Waffeln. Der Spritpreis liegt bei 1,95,9 Euro. Das Gemüse auf dem Markt ist teuer, fünf Euro für einen Brokkoli-Kopf. Morgen ist orthodoxes Ostern. Ramadan geht in die dritte Woche. Das Eis in der Arktis schmilzt schneller als gedacht. Das letzte Jahr war das wärmste seit der Wetteraufzeichnung. Mehl gibt es keines mehr im Supermarktregal. Regen ist nicht in Sicht.

Kaffee kostet acht Euro. Die Bäckerei macht drei Tage dicht, weil kein Personal. Am Rathaus weht die ukrainische Flagge. Im Fernsehen am Nachmittag läuft „Tulpen aus Amsterdam“ im Ersten und Rosamunde Pilcher in Doppelfolge im Zweiten. Draußen dröhnen die Rasenmäher. Die Baupreise kennen nur eine Richtung: nach oben. Das Museum textet nur noch in leichter Sprache. Die Blüten welken derweil.

Einsam

Gerade noch spielte man in einem Orchester, die Töne und Instrumente so passgenau abgestimmt, Misstöne fielen nicht auf, weil sie nicht vorgesehen sind in einem so professionellen Organ.

Und plötzlich hat sich jemand doch verspielt. Weil kurz die Konzentration auf nur das Eine ausfiel. Weil das Leben auch anderes wichtig erachtet.

Sogleich heftet sich das Spotlight an den, der aus der Notenreihe fiel. Im Schatten wird die Nase der Ausreden und Erklärungen noch länger.

Tonlos einsam ist es anschließend. Grotten-schwarz. Nichts wird verziehen. Die Angst vor Tönen außer der Reihe wächst, die Finger zittriger. Fehlerfehlkultur macht einsam.

Sehen

Die Sau ist schlau, mit ihren kleinen Augen sieht sie die Welt ziemlich gut und aus ihrer Perspektive sogar saugut. Aber da ist eine übergeordnete Idee, eine verordnete Sichtweise, die zwangsläufig einzuhalten ist. Eine Brille muss her, durch die es rosa wird. Das sagen die, die das Sagen haben.

Setz die Brille ab. Lass die Sau raus und schau selbst.

Rheinleben

Neulich am Rhein. Von links nach rechts gesehen, erzählt mir mein Schnappschuss Geschichten über das Leben: Eine Brücke umklammert Zweisamkeit, Dreisamkeit mit Kinderwagen, mobile Einsamkeit in fröhlicher Farbkombination. Alles fließt, wie der kommende Kahn beweist. Schließlich mündet die mögliche Welt auf einer geteilten Parkbank mit Menschen, die ich nicht kenne. Solidarität im Ausruhen.

Zufall. Für einen stillen Beobachter ein geschenkter Moment.

Trugbild

Ich warte am Gleis 14. Und dann ist es doch das, was ich denke, das es ist. Immer mehr Dinge entwickeln ein Eigenleben: Von außen tump und schlicht, von innen intelligent. Heute ein Wischeimer nebst Lederlappen, der unbegleitet rauf- und runterfährt. Morgen sind es Züge, die pünktlich sein möchten.

Grabeskälte

Der Dom in Speyer. Ein wahrlicher SUV unter den Dombauten. Durch das monumentale Eingangsportal aus Bronze tritt der Besucher ein und findet sich als Sandkorn unter dem Gewölbe der Herrlichkeit. Dem sinnlichen Eindruck jahrhundertgeronnener Nüchternheit folgt ein Schauder eisiger Kälte.

Ein beflissener Diener des Herrn herrscht einen Besucher an: „Setzen Sie hierin den Hut ab!“

Wenn mal alle Talarträger sich so strikt an Regeln gehalten hätten!

Wie klein und armselig wir Menschen doch sind in solchen Bauwerken. Ich fürchte, Gott wohnt hier gar nicht. Er kuriert höchstens seine dort eingefangene Erkältung aus und sitzt im frühlingshaften Rheinauengarten zwischen den Gänseblümchen und den Menschen. Er schaut auf den Rhein. Alles fließt.

Ich hab´s eilig, der Grabeskälte zu entfliehen.

Schrate

Sie sind ein scheues Völkchen. Schenkten mir eine Feder, die jetzt meinen Hut ziert. Sie kommen nur im Schutz der nebligen Morgenröte ans Fenster. Wispernd und aufgeregt erzählen sie Neues von hinter dem Fluss. Zeigen sich bestürzt über Bombenhagel im Osten.

„Was tun diese Menschenwesen da?“

Ich kann es auch nicht erklären: „Es ist noch widersinniger als eure Existenz.“

MexMex

Heute jährt sich unser Ausflug zum dreißigsten Mal. Mexiko. Poesie einer eigenen Welt. MexMex.

Mit Rucksack von Mexiko Stadt bis Mérida. Per Bus. Stef und ich reisten mit Einheimischen, Hühnern, Schweinen. Versuche über Umweltverschmutzung zu diskutieren. Im Dschungel von Schlangen umgeben. Pyramiden besteigen. Den Popocatepetl erklimmen. Die Rache Montezumas. Tagebuch schreibend.

Jürgen Klinsmann als Eintrittskarte für Gratisfahrten mit dem gelben VW um den Zócalo. Nur wir sehen einen grünen Mond.

Eine Einheimische nimmt mich auf dem Markt ins Visier: Du Kinder? Bald Sohn.

Damals Abenteuer. Heute Femizide an der Tagesordnung.

Vokalschlüssel

Update:

Der Paradiesbauer las diesen Post und zeigte sich verwirrt. Was ich denn sagen wollen würde in Wort und Bild? Dächte ich über Leser hinweg, die ich entweder provoziere ob einer Nullaussage, oder sei ich zu hastig gewesen, habe den geneigten Leser nicht ausreichend mitgenommen in meinen Gedanken?

Meine resignierendes Lachen enthielt die Antwort: Wer liest das hier schon, die Gedankenwelt einer, aus der Welt gefallen.

Nun. Ich will deutlicher werden – Vokale, sie sind die Perlen der Sprache. Töne, geformt in unseren Mündern, in jeder Ecke auf jeder Zungenseite formbar. Sie sind ein Schlüssel zur Welt.

A-E-I-O-U. Ü-Ö. EU-AU-EI. In ihnen liegt der Zauber der Sprache, das Perlende. Die Kraft, Tore zu öffnen.

Hinterzungenvokal. – Vorderzungenvokal. – Schlüssel. So gelungen. So ein Wunder. So Kleinodien, die ein ganzes Universum mit Sinn füllen können.

Und dann schwingt sich dieser Tage das Dunkle auf, ein unschuldiges Z in die Welt zu schicken, den letzten Buchstaben im Alphabet zu verunglimpfen, ihn auf Panzer zu malen, militärisch olivfarbig unterlegt, ein weißes Z für Zerstörung, Zerstümmelung, Zukunftstod. Kein Vokal in Sicht. Kein Schlüssel für Frieden, keine Zwischentöne. Z. Zett. Ich wünschte dir A-E-I-O-U an deiner Seite.